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Die beste Zeit, um ins »Oriel« am Sloane Square zu gehen, war zwischen vier und fünf. Dann trafen sich hier Chelseas Müßiggänger. Sie nahmen an der Bar einen Kaffee oder ein Glas Wein oder hockten ungezwungen an den kleinen Tischen. Man trug helle Cordhosen von »Hackett« oder »Cording’s«, dazu leicht abgetragene Tweedsakkos. Oder man hatte sich einen Cashmere-Pullover locker über die Schulter geworfen. Anzüge waren offensichtlich bei den Männern ebenso verpönt wie Kostüme bei den Frauen. Sie waren die Uniform der Angestellten in Banken und Agenturen, die erst nach Büroschluss im »Oriel« auftauchten.

Sie strömten dann in Massen herein, nahmen die Bar, die Tische und auch das ganze Souterrain in Beschlag und vertrieben diejenigen, zu denen sie nur allzu gerne gehören wollten. Willem rechnete sich weder den einen noch anderen zu. Denn er hatte weder Geld noch Arbeit, sondern nur Zeit.

Doch alles würde sich ändern. Vielleicht schon bald. Am Sonntag würde er Nikita und Pia wieder sehen, einen Plan besprechen und an den folgenden Tagen die Vorbereitungen treffen. In vielleicht schon zwei Wochen könnte alles vorbei sein. Und er hätte Zeit und Geld.

Am Morgen hatte Willem im Telefonbuch nachgeschaut, die Privatnummer der Hewitts aber nicht gefunden, nur die Nummer von »Henry Hewitt, Asian Art & Antiques«. Er wollte sich das Geschäft ansehen, das nur ein paar Straßen vom »Oriel« entfernt war, auf der Grenze zwischen Belgravia und Knightsbridge.

Das Geschäft lag genau an der Ecke zwischen Lowndes Street und Motcomb Street. Zu beiden Straßen gingen große Fenster, die, wie der gesamte untere Teil der Fassade, in dunklem Holz eingefasst waren. Das Geschäft war beleuchtet, also nicht geschlossen, trotz des Gerichtsverfahrens, dem sich sein Inhaber stellen musste. Willem konnte weder Hewitts silbernen BMW noch seinen blauen Range Rover in der unmittelbaren Umgebung entdecken. Die Dreistigkeit, sich in seiner gegenwärtigen Lage selbst noch im Geschäft zu zeigen, besaß Henry Hewitt offensichtlich nicht.

Willem stieg die Stufen hinauf. Das Öffnen der Tür löste einen sanften tiefen Ton aus, der wie der Gong in einem buddhistischen Tempel klang, nur leiser. Es duftete nach exotischen Hölzern und nach etwas wie Räucherstäbchen, nur nicht so aufdringlich. Aus unsichtbaren Lautsprechern ertönte ein Violinkonzert, aber kaum hörbar. Er liebte die Atmosphäre in Antiquitätengeschäften, ihre vornehme Ruhe und Gediegenheit. Er stellte sich vor, wie angenehm es sein müsste, mit Kunst zu handeln. Umgeben von schönen Dingen mit ebenso kultivierten wie wohlhabenden Menschen zu tun zu haben. Aber Willem verstand von Antiquitäten so gut wie nichts, von asiatischer Kunst gar nichts.

Eine junge Frau kam aus dem hinteren Teil des Geschäfts, hübsch, sehr hübsch, mit kurzem braunem Haar, in schwarzen weiten Hosen und einer violetten Samtjacke.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Willem schaute sich um.

»Ich sah im Fenster die wunderschöne Vase. Darf ich mir sie einmal näher ansehen?«

»Aber gern! Ein wirklich schönes Stück. Siebzehntes Jahrhundert.«

Er betrachtete eingehend die Vase, die auf einem schwarzen, mit reichen Schnitzereien versehenen Tisch im Fenster stand. Sie schien wirklich makellos zu sein, zartweiß mit blassblauen Motiven, ganz offensichtlich chinesischen Ursprungs, was selbst Willem erkannte.

»Haben Sie eine Zweite da?«

Ihm war eingefallen, dass es häufig diese Art von Vasen als Paar gab, die man sich auf den Kaminsims stellte.

»Nein, leider nicht. Die Vase ist ein Einzelstück. Sie wurde erst vor wenigen Jahren aus einem holländischen Schiffswrack geborgen. Die andere ist wohl verloren gegangen.«

Ganz dumm war seine Frage also nicht.

»Schade.«

»Aber wenn Sie an einem Paar in dieser Art interessiert sind, könnten wir uns für Sie bemühen. Sie tauchen immer wieder auf Auktionen auf.«

»Das ist sehr nett. Aber ich bin nur auf der Durchreise in London«, log er.

»Darf ich Ihnen trotzdem unsere Karte mitgeben? Wer weiß, vielleicht schauen Sie bei ihrem nächsten Besuch in London wieder bei uns rein.«

Willem nahm von der hübschen Brünetten die Geschäftskarte entgegen.

»Auf Wiedersehen und vielen Dank nochmals.«

»Auf Wiedersehen.«

Auf der Straße, in sicherer Entfernung holte Willem die Karte wieder hervor. »Henry Hewitt, Asian Art & Antiques«. Darunter standen die Öffnungszeiten, die Adresse, die Telefon- und Faxnummer sowie eine weitere Nummer und in Klammern »privat«. Fast wie nebenbei, ohne Anstrengung hatte Willem seinen ersten Sieg über Henry Hewitt errungen. Sofort eilte er nach Hause. Er wollte diesen Sieg so schnell wie möglich auskosten. Kaum angekommen, wählte er die letzte Nummer.

Eine Frauenstimme meldete sich mit »Hallo«, ohne das H auszusprechen, mit deutlicher Betonung auf dem O. Willem legte sofort wieder auf. Am Apparat war wohl Hewitts Frau, die französische Adlige, gewesen, von der er gelesen hatte. Er hatte die Privatnummer der Hewitts! Es war vielleicht nicht viel. Aber endlich hatte er Nikita und Pia etwas Konkretes, ein für das Gelingen der Entführung unbedingt notwendiges Detail vorzuweisen.

Am nächsten Tag wollte sich Willem für seine Tat belohnen. Nach dem üblichen Frühstück im »Raison d’être« wandte er sich zum nächsten Geldautomaten, um seinen Kontostand zu überprüfen. Wie zu erwarten, verhieß der kleine Beleg nichts Gutes. Mit einem Kredit, der sein Überleben um ein oder zwei Monate verlängern würde, konnte Willem nicht rechnen. Seine Ausgaben überstiegen seit Monaten die Eingänge bei weitem. Zudem konnte er von der Zeitung in Gent keine Überweisung mehr erwarten. Dennoch machte er sich keine Sorgen. Jetzt, da feststand, dass er in absehbarer Zeit mehr als genug Geld hätte, wäre es sinnlos, sich Sorgen zu machen, redete sich Willem ein.

Angesichts der Summe, die er bekäme, hatten für ihn die Zahlen auf dem Bankzettel jeden Schrecken verloren. Er schob erneut seine Karte in den Automaten, tippte seine Geheimzahl ein, dann den gewünschten Betrag. Er wartete ein paar Sekunden, und der Automat gab seine Karte wieder frei und reichte ihm nach ein paar weiteren Sekunden griffbereit fünfhundert Pfund in Zehn- und Zwanzig-Pfund-Noten.

In South Kensington bestieg Willem die Piccadilly Line, die ihn fünf Minuten lang bis zur Station Green Park durchrüttelte. Frohen Mutes ließ er sich von der Rolltreppe nach oben tragen.

Im Piccadilly herrschte geschäftiges Treiben, aber keine unangenehme Enge. Erst am späten Nachmittag würde der alltägliche Wettlauf der Pendler wieder beginnen. Willem lenkte seine Schritte zum Traditionskaufhaus »Fortnum and Mason’s«. In der Lebensmittelabteilung im Parterre wimmelte es von kauflustigen Japanern. Er brauchte nicht lange zu suchen. Er nahm eine grüne Dose Earl Grey aus dem Regal und drängelte sich an der Kasse an ein paar zögerlichen japanischen Touristen vorbei.

Am Ausgang zur Duke Street genoss Willem den kurzen Augenblick, in dem ihm ein livrierter Portier devot die Tür öffnete. Er bog in die rechte Hälfte der Jermyn Street ein und betrat »Crockett and Jones«, wo er gewöhnlich seine Schuhe kaufte. Seit langem liebäugelte er mit einem Paar sandfarbener Wildlederboots, die er nach kurzer Anprobe erstand. Schnell entschlossen kaufte er noch in der Filiale von »Hackett’s« einen Pullover in einem kräftigen warmen Rot. Ein paar Häuser weiter verführte ein Sonderangebot bei »Lewin’s« Willem zum Kauf dreier Hemden.

Ein Blick auf die Uhr: In knapp zwanzig Minuten fing die erste Filmvorstellung im Swiss Center am Leicester Square an. Er wollte sich »Cyrano de Bergerac« anschauen, der im »Evening Standard« angekündigt wurde. Zügig marschierte er zum Piccadilly Circus, den er unbeachtet hinter sich ließ.

Der Eingang des Kinos lag in einer kleinen Nebenstraße links vom Leicester Square, etwas versteckt hinter einem Geschäft mit Schweizer Uhren. In der Vorfreude, gleich für zwei Stunden in eine in Bildern, Sprache und Spiel vollkommene Gegenwelt zu entschwinden, bestieg Willem den Fahrstuhl hinauf zum Saal. Nur im Kino hegte er Empfindungen, die er in der Welt draußen nicht einmal zu unterdrücken brauchte, weil er sie nicht hatte. Hier liebte, lachte und weinte er mit der Hingabe, die er sonst für nichts und niemanden aufbringen konnte. Wut war das einzige echte Gefühl, zu dem er sonst fähig war. Doch auch die zeigte er selten.

Nach der Vorstellung kehrte Willem nach Hause zurück. Er breitete seine Einkäufe vor sich aus und war zufrieden.